Der Pamir-Highway ist eine der höchstgelegenen Fernstrassen der Welt. Über eine Strecke von 1500 km führt er von der tadschikischen Hauptstadt Dushanbe in die kirgisische Stadt Osh.
Von Dushanbe führt die Route durch zwei Täler hoch und über einen Pass ins Panj-Tal. Der Fluss Panj bildet über hunderte von Kilometern die Grenze zu Afghanistan. Dem Panj flussaufwärts folgend führt die Strasse nach Khorog, dem Hauptort der autonomen tadschikischen Provinz Berg-Badachschan und weiter das Ghund-Tal hoch über den ersten 4000er Pass. In der Folge führt der Highway auf einer Höhe zwischen 3600 m und 4600 m durch eine Hochgebirgswüste. Auf diesem Streckenabschnitt befinden sich nur drei Ortschaften. Nach der letzten, Karakol, und dem gleichnamigen See, verlässt der Highway das Pamir-Gebirge und führt über zwei weitere Pässe des Alau-Gebirges nach Osh.
Trotz guter Vorbereitung und reichlich Trainingstouren, die ersten Tage sind hart.
Unglaublich schwer wiegen unsere Fahrräder mit Gepäck. Ob wir das wirklich alles brauchen, frage ich mich zweifelnd zwischen jedem Atemzug, den ich die Steigung hochkeuche. Langsam kriechen wir im Schritttempo bergauf und kommen dabei fast nicht vom Fleck. Die Oberschenkel ziehen und brennen, und ich sehne mich nach dem Feierabend.
Am zweiten Tag ist die asphaltierte Strasse zu Ende. Vor uns eine staubige Schotterpiste mit giftigen Anstiegen und steilen Abfahrten, die die erarbeitete Höhe wieder zunichte machen. Wir durchfahren ein kleines Dorf nach dem anderen. Die Tadschiken sind ausgesprochen angenehme Leute und versüssen uns die Rackerei. Viele lachen, wenn sie uns sehen, grüssen höflich und kommen zu einem kleinen Schwatz. Eine willkommene Pause. Mit ein paar Brocken Russisch, internationaler Zeichensprache und etwas Fantasie geht das hervorragend. Nur ganz selten wird die entspannt Atmosphäre gestört. Ein kleiner Knirps, bestärkt durch seine Freunde, schiesst mir, der ahnungslos Vorbeifahrenden, mit seiner Kügeli-Pistole ins Füdli. Frau Rottenmeier schwingt sich kurzentschlossen vom Rad, entreisst dem Bengel die Pistole - dieser rennt schreiend nach Hause, recht so - und gibt das Corpus Delicti im nahen Dorfladen ab, wo es der Verkäufer sofort unter der Theke verschwinden lässt. Alle reiben sich genüsslich die Hände ab der gelungenen Einlage und wir kaufen zur Abrundung eine grosse Flasche RC-Cola und zwei Snicker.
Unser Zelt stellen wir in Obstplantagen oder neben Feldern auf. Die Gegend hier ist stark landwirtschaftlich genutzt. Taucht irgendwann ein Landbesitzer auf so geht das immer in Ordnung, und nicht nur das: Als wir unser Zelt an einem lauschigen Plätzchen unter Bäumen aufstellen, taucht schon bald der Bauer auf und bringt uns Joghurt aus seinem eigenen Betrieb und bleibt dann natürlich eine Weile, um einen Schwatz mit uns zu halten.
Am dritten Tag biegen wir ins wilde Khingob-Tal ein, meist mehr Schlucht als Tal, mit wenigen Dörfern auf grünen Terrassen. Weit unten fliesst der Khingob, heute zahm und unschuldig füllt er nur einen kleinen Bestandteil seinen Bettes. Doch er kann auch anders. Die Brücken zur anderen Seite sind zerstört. Die grossen Stahlträger liegen verbogen im Kiesbett. Über einfache Seilwinden werden die Dörfer auf der anderen Flussseite mit Lebensmitteln versorgt.
Dieser Teil der M41, so die offizielle Bezeichnung des Pamir-Highways, wird vernachlässigt. Eine Strasse weiter südlich wird stattdessen ausgebaut. Zu wild und unbeherrscht ist das Khingob-Tal. Ständig rieseln irgendwo Steine herunter. Einmal muss ich kräftig in die Pedalen treten, um mich vor einem Steinschlag in Sicherheit zu bringen. Immer wieder müssen wir Bäche überqueren die sich durch die Strasse ein neues Bett gesucht haben. Am Ende das Tales bleiben wir im Aufstieg zum Saghirdasht-Pass buchstäblich an dessen steilen Hängen liegen. Wir stellen unser Zelt auf einem schiefen Wiesli unmittelbar nach dem letzten Dorf am Pass auf. Als wir morgens in der Früh von einem Schäfer und seinen tausend Schafen geweckt werden, sind wir noch zum Schäkern aufgelegt. Einige Stunden später sieht unsere Welt nicht mehr ganz so bunt aus. Wir liegen beide im spärlichen Schatten der mickrigen Dornbüsche unmittelbar neben unserem Zelt. Unsere Darminhalte haben wir zwischenzeitlich in der nähren Umgebung grosszügig verteilt. Wir sind beide kaum noch zum Gehen fähig. Sobald ich aufstehe, wird mir schwarz vor Augen. Ich verbringe den Tag im Delirium und konzentriere meine wenigen noch arbeitenden Hirnzellen darauf, genügend Wasser zu trinken, was mir allerdings schwerfällt. Es ist unerträglich heiss. Ich krieche alle halbe Stunde ein paar Zentimeter mit dem Schattenwurf um meinen Busch herum, immer wieder mal ein Auge auf Fabienne werfend, die ganz in der Nähe dasselbe Prozedere vollzieht. Gegen Abend schleppt sich Fabienne - der es, Antibiotika sei Dank, etwas besser geht - ins nahe Dorf und organisiert für den nächsten Tag einen Transport über den Pass nach Kala-i-Khumb.
Kala-i-Khumb ist das Dorf wo wir vor vier Jahren unsere Reise über den Pamir abbrechen mussten, weil in Khorog, dem Hauptort der autonomen Provinz Berg-Badachschan und des Pamirs, kriegerische Unruhen ausgebrochen waren mit zahlreichen Toten und Verletzten. Viele Flüchtende aus Khorog haben damals die Srassen Kala-i-Khumbs gefüllt. Konvois von Fahrzeugen waren Richtung Dushanbe unterwegs. Die Stimmung war bedrückt, die zwei, drei kleinen Läden vor Ort beinahe leergekauft.
Heute ist der Ort zu meiner grossen Freude wie verwandelt. Kala-i-Khumb hat sich herausgeputzt. Viele Häuser sind neu gestrichen. Der Strasse entlang hat es Blumenbeete und die Kala-i-Khumber promenieren auf ihrer Hauptstrasse herum und sind stets zu einem kleinen Schwatz aufgelegt. Es gibt neu zwei Hotels, ein richtiges Restaurant, viele neue Läden und sogar einen richtigen Supermarkt, der Waren anbietet, wie wir sie vor vier Jahren nicht einmal in Dushanbe bekommen hatten.
Nach ein paar Tagen Rast und Erholung vor unserer Darmverstimmung brechen wir Richtung Khorog auf. In den folgenden Tagen fahren wir das Panj-Tal hoch. Der Panj ist einmal schmal und reissender Bergbach, einmal ruhiger Fluss und beinahe so breit wie ein See. Auf der anderen Seite des Flusses ist Afghanistan. Afghanistan, oft so nahe, dass man sich gegenseitig zuwinken kann. Fasziniert schaue ich immer wieder hinüber und stelle mir vor, wie es wäre, durch eines dieser Dörfer zu spazieren. Ein wirklicher Kontakt zwischen den Dörfern dies und jenseits von Grenze und Fluss besteht aber kaum. Zu angespannt sind die Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Seit einiger Zeit gibt es auf den wenigen Brücken auf dem Panj aber die sogenannten Afghanen-Märkte. Von beiden Seiten ist jeweils am Samstagmorgen der Zugang zur Brücke möglich, wo dann ein Markt, mit Käufern und Verkäufern von beiden Seiten, stattfindet. Leider kann dieser Afghanen-Markt, als wir ihn in Khorog besuchen wollen, nicht stattfinden. Der tadschikische Präsident wird rund zehn Tage später in der Stadt erwartet, dies als Begründung. Wo genau der Zusammenhang zwischen geschlossenem Brückenmarkt und Präsidentenbesuch besteht, ist mir bis heute nicht wirklich klar.
Je weiter wir Richtung Khorog und ins Hochgebirge vorstossen, desto moderner und westlicher wird die Bevölkerung. Hier in der hintersten Ecke des Landes und direkt an der afghanischen Grenze, treffen wir auf immer mehr Frauen, die kein Kopftuch tragen und in modischen Hosen und Shirts herumlaufen Auch der Umgang zwischen den Geschlechtern ist hier sehr entspannt. Wir werden weniger nach unseren Ehemännern gefragt und mehr nach unseren Berufen. Die Bewohner des Panj-Tals, wie auch eines grossen Teils des Pamir sind Ismailiten und bezeichnen sich als gemässigte Muslime. Der Aga Khan ist ihr religiöses Oberhaupt (als 49. Imam ist er ein direkter Nachfolger Mohammeds) und unterstützt als einer der reichsten Männer der Welt den tadschikischen Pamir vor allem auch wirtschaftlich und in der Bildung.
Khorog, der Hauptort der autonomen Provinz ist eine Kleinstadt mir rund 30’000 Einwohnern und ein riesiger Ameisenhaufen aus Kleinbussen, Offroaders, den unverwüstlichen Ladas und unzähligen Menschen die sich zwischen den Autos durchzwängen und kreuz und quer darüber kraxeln. Wir kraxeln mit und ich freue mich, dass hier nach den schlimmen Geschichten von vor vier Jahren, alles seinen friedlichen und geruhsamen Gang geht. Wir geniessen das Einkaufen auf dem Markt, schlagen uns in den vielen guten Restaurants die Bäuche voll und machen uns dann auf, das Ghund-Tal hoch.
Die Strasse ist erstaunlich gut und fast durchgehend asphaltiert, die Steigungen angenehm. Rund 160 km sind es vom auf 2000m liegenden Khorog auf den 4271m hohen Koitezek-Pass. Er ist der erste von fünf 4000er Pässen die wir zu überwinden haben. Sind wir aber einmal über dem ersten Pass, so gehen wir nicht mehr weiter hinunter als auf 3600m.
Das Ghund-Tal ist dem Fluss entlang sehr fruchtbar, keine 50m von Fluss und bewässerten Gebieten entfernt, beginnen aber die steilen kargen Hänge aus Sand und Fels. Je weiter wir das Tal hochfahren, desto kleiner, weiter auseinander liegend und ärmer werden die Dörfer. Auf den langen einsamen Abschnitten dazwischen tauchen immer wieder, wie aus dem Nichts, Fussgänger auf. Einzelne Männer mit Arbeitsgeräten oder Tieren, unterwegs zu weit entfernten Wirkungsstätten, Frauengruppen zu weit entfernten Erledigungen, jungen Frauen, hübsch herausgeputzt und mit dem obligaten Händy am Ohr, mutterseelen alleine der langen Gerade nachlaufend ins Nirgendwo. Als wir bei einer kleinen Zwischenabfahrt um eine Kurve kommen, rasen wir durch eine Gruppe von Männern mit Sturmhauben verhüllten Köpfen. Gleichermassen erschrocken starren wir einander nach und vor lauter zurückschauen ende ich beinahe im Strassengraben. Haben wir da gerade ein Trüppchen beim Vorbereiten eines Banküberfalls gestört? Sturmhaubenmänner treffen wir in den kommenden Wochen noch öfter. Banken gibt es hier aber eh keine, höchstens ganz, ganz kleine Läden. Nein, Sturmhauben sind die etwas extravagante, aber effektive Art der Pamiri sich vor Sonne, Wind und Sand zu schützen.
500 Höhenmeter vor dem Pass ist uns dann bei der Strassenmeisterei noch eine letzte Pause vor dem Schlussanstieg vergönnt. Ein Militärkonvoi mit rund fünfzig Fahrzeugen kommt die Strasse vom Pass herunter. Die Strasse ist hier nicht mehr asphaltiert und der starke Wind tut das seine, um die ganze Umgebung in eine Staubwolke zu hüllen. Wir warten am Strassenrand bis der Konvoi vorüber ist. 49 Militärchauffeure lachen und winken uns zu. Einer zeigt uns den Vogel. Keine schlechte Bilanz.
Der letzte Aufstieg zum Pass ist dann eine einzige Quälerei. Alle Energie verpufft in Lunge und Beinen. Das Hirn funktioniert nur noch auf Standby. Zum Glück. Die Sinnfrage in einem solchen Moment zu stellen wäre nicht besonders förderlich.
Als wir endlich oben sind, sind wir uns dessen nicht einmal sicher. Kein Schild, keine Markierung kennzeichnet die Passhöhe, die Strasse verliert sich auf einer sich leicht senkenden Hochebene im Nichts.
Es ist der längste Tag im Jahr und wir liegen bereits um 19 Uhr, gut verpackt mit Kappe und Wollsocken in unseren Schlafsäcken im Zelt. Wir zelten auf 4100m ü. M., weiter nach unten scheint es hier im Moment nirgends zu gehen. Nach rund einer Stunde rumpelnder Fahrt über eine Piste, die mehr aus Steinbrocken, als aus Schotter und Sand besteht, haben wir unsere Räder in den Sand geschmissen und Feierabend gemacht. Wobei das mit dem Feiern hält sich in Grenzen. Der Wind blässt jetzt aus allen Rohren, was jeden Aufenthalt ausserhalb des Zeltes zum Spiessrutenlauf macht. Unser Optimus-Benzin-Kocher, der damit Werbung macht, auch in hohen Lagen einwandfrei zu funktionieren, hat den Geist aufgegeben und so gibt es anstelle der heiss ersehnten Polenta mit Zwiebeln und Karotten, einen Zwiebel-Karotten-Salat (1Zwiebel, 2 Karotten, für zwei hungrige Mäuler). Die Abendunterhaltung hier in der Gegend besteht vor allem aus Sterne gucken, die Dunkelheit ist aber noch fern, der Wind stark und die Müdigkeit gross, also ab in den Schlafsack. Um Mitternacht knurren dann unsere Mägen so laut, dass wir noch eine Runde Snicker nachschieben.
Die Vegetation hat sich nach dem Pass verändert. Hier oben ist es staubtrocken. Entlang kleiner Flussläufe gibt es niedere Dorngewächse und so etwas wie rauhes Gras. Entlang der Strasse, zu unserem Erstaunen, immer wieder Blumen. Später erfahren wir, dass es vor einigen Tagen geregnet hat, hier wo es praktisch nie regnet und nicht einmal in den bitterkalten Wintern schneit.
Am nächsten Tag treffen wir in Alichur ein, eine der drei Siedlungen auf der Hochebene entlang des Pamir-Highways. Wie auch die anderen beiden Siedlungen wurde Alichur von den Sowjets aus strategischen Überlegungen gegründet. Vorher lebten in dieser unwirtlichen Gegend nur Nomaden. Alichur zählt rund 1000 Einwohner und ist zig Kilometer von der nächsten Siedlung entfernt. Zu sowjetischen Zeiten gab es hier oben noch Strom. Unzählige Strommasten kreuz und quer im Dorf und entlang das Highway zeugen davon. Heute hat jedes Haus ein kleines Solarpanel, das gerade genug Strom liefert um das Händy zu laden. Im Dorf gibt es zudem einen Generator, der nach Bedarf herumgereicht wird. Auch mit Wasser wird hier sparsam umgegangen. Die Pumpbrunnen im Dorf sind umzäunt und zum Teil abgeschlossen. Wir müssen jedes mal fragen, um einen Kübel Wasser zu bekommen.
Als wir ankommen, taucht die Abendsonne das Dorf in ein mystisches Hochlandlicht. Ich verliebe mich sofort in den Ort und möchte am liebsten hier für ein Jahr bleiben, Sommer und Winter erleben, und ungestört alles zeichnen. Wir beziehen ein eigenes kleines Häuschen und bleiben für ein paar Tage. Am Abend kommt unser Gastgeber vorbei und heizt den kleinen Ofen mit Yakdung ein. Rachima, seine Frau ist Englischlehrerin im Dorf. Sie ist Informationsquelle, Geschichtenerzählerin und die allerbeste Köchin auf dem Hochplateau. Mit den immer gleich bescheidenen Zutaten, Kartoffeln, Teigwaren, Reis, Zwiebeln und Karotten zaubert sie immer wieder neu kombinierte Gerichte auf den Tisch.
Nach einigen Tagen brechen wir mit einem gewaltigen Rückenwind als Unterstützer zum Neizatash-Pass auf. Vom Wind getragen fliegen wir richtiggehend den Pass hinauf und flitzen nachher die rund 60 km nach Murgab hinunter. So macht Fahrradfahren Spass. Wir geniessen jede Minute und jeden Kilometer des leichten Vorankommens und den Anblick der fantastischen Felsformationen in allen Farben und Schattierungen um uns. Im Windschatten eines ausgetrockneten Flussbettes machen wir Rast, essen das Fladenbrot, das Rachima uns mit auf den Weg gegeben hat und unsere letzte Büchse Sardinen, alles unter heftigem Protestgeschrei der hier ansässigen roten Murmeltiere.
Murgab hat rund 6000 Einwohner und ist Hauptort des Hochlandes. Auch hier gibt es nur Strom vom Generator. Wir übernachten im einzigen Hotel, das es überhaupt auf der Hochebene gibt. Der junge Hoteldirektor, ein Kirgise aus dem Nachbarland (im Gegensatz zu all den ethnischen Kirgisen, die hier im Hochland zuhause sind), beschwert sich gleich bei unserer Ankunft bei mir über den fehlenden Internetzugang im Ort, das heisst, eigentlich auf der ganzen Hochebene. Hätte er das gewusst, hätte er dieses Hotel wohl nie übernommen. Ich lasse ihn eine Runde mit meinem bepackten Rad drehen, das freut ihn und lenkt von den Alltagssorgen ab.
Von nun an fahren wir der chinesischen Grenze entlang. Der Grenzzaun ist oft unmittelbar neben der Strasse, die wahre Grenze dann aber einige Kilometer entfernt auf den Berggipfeln der 5000 und 6000er. Nachdem wir mit Murgab auf 3600m den tiefsten Punkt der Hochebene erreicht haben, sind wir nun auf dem Weg zum höchsten Pass, dem 4655m hohen Aikbaital.
Endlose, leicht ansteigende Geraden führen uns stundenlang, wie schon in den Tagen zuvor und danach, in den Horizont und darüber hinaus. Vor dem wiederum bissigen Schlussanstieg machen wir Rast in der Strassenmeisterei. Beinahe 70 km von der nächsten Siedlung entfernt leben hier zwei Familien das ganze Jahr über auf rund 4500 Meter Höhe. Ihre Strassenmeisterei ist mehr Bretterbude als Haus, die Einrichtung ärmlich und zum Teil gar nicht vorhanden. Die Kinder sitzen apathisch an der Wand. Mehr als die materielle Armut beelendet mich hier die soziale Isolation der Kinder und vermutlich auch ein Mangel an geistiger Nahrung. Ich bin froh dem Elend zu entrinnen und hieve meine schweren Beine aufs Rad.
Die Abfahrt vom Aikbaital-Pass ist dann nicht das, was man sich nach einem anstrengendem Aufstieg in solche Höhen verdient hätte. 30 km Wellblechpiste vom Feinsten. Jedem zu empfehlen, der seine Nierensteine zertrümmert haben will. Total durchgeschüttelt geben wir mitten drin auf und stellen unsere Zelt gleich am Strassenrand auf.
Ein paar Tage später übernachten wir im Tal des Todes, auch Tal der Tornados genannt. Das Tal ist riesig, absolut trocken und voller bunter Steine und Sandschichten. Der Wind fegt uns fast vom Sattel und wir suchen lange, um einen einigermassen windgeschützten Platz für unser Zelt zu finden. Die Heringe beschweren wir mit schweren Steinen, sonst fliegen wir heute Nacht noch durch die Luft. Im letzten Rinnsal des grossen, beinahe ausgetrockneten Flussbettes schöpfen wir vorsichtig mit einer Tasse das etwas klarere Wasser oben ab und sammeln es in unserer Faltschüssel, um es zu filtern. Wir kochen Kaffee und verkriechen uns zum Aperitif ins Vorzelt. Das Innenzelt lassen wir wohlweislich vorerst geschlossen, zu viel Sand wirbelt hier durch die Luft. So kauern wir zwischen unseren zahlreichen Fahrradtaschen und stinkenden Socken, schlürfen den heissen Kaffee, knabbern an einem Snicker und stellen uns vor, es sei Kuchen. Da braust eine Windhose herbei, ich sehe sie noch, mein Griff zum Zeltreissverschluss kommt aber zu spät. Sie rauscht mit einem Höllentrara herein, das Vorzelt wird aufgeblasen, mit herum peitschendem Sand gefüllt, unsere Gesichter, Augen, Haare gestrählt, unsere Lungen pulverisiert. Wir haben uns noch nicht erholt, da will eine zweite Windhose an unsere Party teilnehmen, aber diesmal bin ich schneller am Zeltverschluss.
Der letzte Pass auf der Hochebene, der 4336m hohe Kizil Art-Pass, befindet sich bereits im Niemandsland zwischen Tadschikistan und Kirgistan. Der tadschikische Grenzposten befindet sich rund ein Kilometer vor der Passhöhe. Ein paar übellaunige Soldaten lungern zwischen schäbigen Baubaracken und Containern herum und scheinen nicht Bescheid zu wissen. Wir stöbern selbständig alle Gebäude durch, um den gewünschten Ausreisestempel zu bekommen.
24 km später und 1200 Höhenmeter tiefer erleben wir dann am voll computerisierten Grenzposten der Kirgisen, wie gross der Unterschied zwischen den beiden Länder ist. Die Abfahrt durch das Niemandsland ist unsere letzte Fahrt auf einer Rumpelpiste. Ab dem kirgisischen Grenzposten sind die Strassen einwandfrei. Fast etwas langweilig, muss ich sagen. Je weiter wir herunterkommen desto fruchtbarer wird das Land um uns. Das Gras wird immer grüner, dichter, höher, Alpenblumen tauchen auf, Pferde, Kühe, Jurten und kirgisische Familien die hier oben mit ihren Familien und Tieren den Sommer verbringen.
Nach zwei weiteren Pässen und insgesamt über 5000 Höhenmetern Abfahrt treffen wir in Osh ein. Wir wohnen direkt über dem in ganz Zentralasien berühmten Basar. Ich besuche ihn mindesten zweimal täglich und geniesse das herumstöbern und die Atmosphäre. Oft sitzen wir auch im nahen Stadtpark und beobachten die Osher wie sie herumpromenieren. Männer mit Bärten und Frauen mit verhüllten Körpern und Gesichtern sehen wir hier zum ersten mal seit langem. Junge Frauen in Shorts, engen Leibchen und viele nackter Haut, coole Typen in Jeans und Shirt, Russinnen in ihrem unverkennbaren Russenlook, der vielleicht dadurch zu charakterisieren ist, dass sie Dinge tragen, die sonst nie jemand im Leben, auch nicht unter Zwang, anziehen würde. Männer, russische, uzbekische und kirgisische in hässlichen Trainerhosen. Kirgisen mit ihren wunderbaren Filzhüten und Kirgisinnen mit ihrem traditionellen Kopftuch, ihren Schürzen und den obligatorischen bunten Socken in Stofffinken. Alle laufen sie hier durcheinander und sitzen friedlich nebeneinander im Kaffee. Wir mischen uns unter sie und geniessen das Nichtstun.